Türkische Nacht
Vom 25. bis 29. Mai 2010 finden in Hamburg die Türkischen Nächte oder Türk Geceleri statt. Ein fünftägiges Festival zusammengestellt und geleitet von Fazıl Say. Die insgesamt sechs Konzerte zeigen die ganze Bandbreite türkischer Musik von Klassik über Traditionelles bis hin zum Modernen an jeweils unterschiedlichen Locations in Hamburg.
Fazıl Say – ein großartiger Komponist und Pianist, den ich eher zufällig bereits im Januar in der Musikhalle zum ersten Mal hören durfte. Sein Stück Schwarze Erde (Kara Toprak) hat bei mir – als Nicht-Klassik-Kenner – bleibenden Eindruck hinterlassen. Einfach unfaßbar, wie dieser Mensch quasi durch Handauflegen den Klang des typisch westeuropäischen Flügels in den Klang eines typisch anatolischen Instruments verwandelt und mit diesen spielerisch fließend eingesetzten Gegensätzen ein unglaublich intensives Klangerlebnis zaubert.
Nun also fünf Tage Hamburg und ich war beim Eröffnungskonzert in der Musikhalle (Neudeutsch Laeiszhalle) mit dabei. Es spielte das Luzerner Sinfonieorchester unter Leitung von Ibrahim Yazici. Als Solisten Patricia Kopatchinskaja die Violine und Fazıl Say am Klavier.
Den Auftakt bildet Köçekçe – ein Stück von Ulvi Cemal Erkin, das man sich als Volksmusik, Klassik aber ebenso gut als Bauchtanzmusik vorstellen kann. Wunderschön! Aber optisch doch seltsam, wenn da ein Orchester auf der Bühne aufgereiht ist und hinten ein Percussionist ganz statisch die Arme nach oben reckt, um die Zimbeln zu spielen, die normalerweise an grazil sich renkenden Fingern von Bauchtänzerinnen in Bewegung sein sollten. In jedem Fall beeindruckt Patricia Kopatchinskaja auf der Violine.
Der erste Eindruck von Frau Kopatchinskaja wird aber um Längen geschlagen vom folgenden Konzert für Violine und Orchester, komponiert von Fazıl Say: 1001 Nights in the Harem. Die Musik hat mich tief berührt und zeitweise standen mir Tränen in den Augen. Das Konzert erzeugt Bilder im Kopf von tanzenden, flüsternden, streitenden, lachenden und weinenden Frauen – eben im Harem vergangener Zeiten. Die Violine klingt teilweise wie menschliche Stimmen und überrascht mit glasklaren leisen Passagen im Wechsel mit schnellen, lauten oder gezupften bis hin zu geklopften Elementen, die mich in Verbindung mit dem heiteren Wesen der Violinistin geradezu auflachen läßt. Das Orchester begleitet dieses Solo ganz hervorragend und spielt zum Tanz auf oder tritt mit Gemurmel in den Hintergrund der Erzählung. Kurz gesagt: Ich habe lange Musik nicht mehr so aus vollem Herzen genossen.
Nach der Pause folgte Fazıl Say am Klavier mit dem Orchester. Er spielte themengerecht für eine türkische Nacht Mozarts Ouvertüre zur Entführung aus dem Serail und ein Konzert von Camille Saint-Saëns. Und wieder hat mich sein Spiel gefesselt. Er hat eine unglaubliche Präsenz auf der Bühne, man hört zarte und starke Klänge, vom Orchester untermalt. Man meint, die Stücke zu kennen und wird doch dauernd überrascht. Dazu kommt die Mimik und Gestik des Künstlers. Man glaubt, er befindet sich permanent in einem hochexplosiven Streitgespräch mit seinem Flügel. Der Oberkörper wankt vor und zurück, der Gesichtsausdruck wechselt ständig, hin und wieder stampft er mit den Füßen und wenn eine Hand auf den Tasten gerade nicht gebraucht wird, reden seine Arme in höchster Anspannung auch mit. Wenn der Dialog seines ganzen Körpers mit dem Instrument ins Stocken gerät, bezieht er mit raumgreifenden Gesten das Orchester mit ein. Gleichzeitig strahlt er in seinem Spiel wie in seiner Körperlichkeit einen seltsamen Widerspruch zwischen totaler Anspannung und Entspannung aus. Das Spiel wechselt zwischen Eindringlichkeit und lockerem Dahinperlen, der Mensch hat auf Äußerste gespannte Hände und gleichzeitig hängen die Schultern und die Unterlippe völlig unbeachtet herunter. Wie gesagt: Einfach fesselnd.
Der dritte Akt des Abends war das Nachtkonzert. Ohne Orchester aber dafür mit dem Percussionisten Burhan Öçal setzen Fazıl Say und Patricia Kopatchinskaja den Abend als improvisierendes Trio fort. Mit Gershwins Summertime eröffnete Fazıl Say solo die Session und setzte fort mit Kara Toprak. Nachfolgend im Duett mit Patricia Kopatchinskaja u.a. Interpretationen von Ravel und Bartok. Herrlich! Zugleich stellten die Beiden unter Beweis, daß sie nicht nur (auch) Deutsch sprechen sondern über eine gehörige Portion Humor verfügen und geballte Harmonie ausstrahlen – ich glaube, sie haben mit ihrer fast schüchternen und dennoch lustigen Art alle Herzen erobert. Ganz bezaubernd das kleine Stück von Frau Kopatchinskaja über die Ameisenliebe!
Schließlich kam Burhan Öçal auf die Bühne und begann mit einem Percussion-Solo, bei dem mir einfach die Luft wegblieb. Unglaublich, wie schnell es möglich ist, nicht nur die Finger zu bewegen sondern darüber hinaus eindringliche und vielfältige Rhythmen auf einer Trommel zu erzeugen. Die folgende improvisierte Unterhaltung zwischen Flügel und Trommel war einfach ein Gedicht. Zum Schluß spielten alle drei zusammen und das Publikum tobte. Standing Ovations zum mitternächtlichen Abschluß eines überaus gelungenen Abends.
Solche Events hätte ich gerne öfters – als Erinnerung ein kleines Handy-Video von der Zugabe des Trios an diesem Abend. Ich weiß, das darf man nicht: Filmen bei Konzerten. Und qualitativ hat das Handy weder die Bild- noch die Toneigenschaften, die ich schätze. Aber man erhält einen kleinen Eindruck von diesem Abend und ohne Video hat diese Konzertkritik auf meiner Seite keine Existenzberechtigung.